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05/2015
Eine Kindheit während der 2. Weltkrieges und nach Kriegsende in Rothenburg -
Erinnerungen von Werner Voigt
Ab Mitte 1944 wurden die Luftangriffe auf Mitteldeutschland immer heftiger. Man konnte nach den
Luftangriffen auf Halle oder Dessau nachts den Feuerschein am Himmel sehen. Im Sommer 1944 wurden in
Höhe der Tannen-grund und der Nussgrund sehr viele Brand-bomben abgeworfen. Auch eine 5-Zentner-Bombe
war dabei. Sie erwies sich aber als Blindgänger. Wenn diese Mengen von Bomben auf unser Dorf und ins
Werksgelände gefallen wären – nicht auszudenken!
Rothenburg wurde wegen des kriegswichtigen Werkes und der Gesamtzahl der Zwangsarbeiter und
Kriegsgefangenen sehr stark bewacht. Es gab viele Streifendienste im Ort, um das Betriebsgelände und eine
ständige Bewachung der „Alten Schleuse“.
Fliegeralarm kam nun nicht nur nachts, sondern auch am Tage. Wenn die Sirene losheulte, sie stand im
Vorgarten der Familie Bosse, mussten wir alle die Schule verlassen und nach Hause flüchten. Unser Fluchtweg
führte über die Eisenbahnbrücke zur Schlackenhalde.
Am 19. Februar 1945 überflogen vier Flugzeuge im Tiefflug das Werksgelände und schossen ins Werk. Dort
gab es Opfer und Verwundete. Danach flogen sie über die 1942 fertiggestellte neue Schleuse zur Eisenbahn-
brücke bei Gnölbzig. Dort griffen sie einen Güterzug auf der Brücke an. Dieser Zug führte einige Diesel-
Kesselwagen mit, die durch den Beschuss in Flammen aufgingen. Der Zug kam zum Stillstand. Bei den
Löscharbeiten durch die Feuerwehr Trebnitz kamen infolge der Explosion des benachbarten mit Munition
beladenen Waggons 14 Feuerwehrmänner ums Leben. Auch eine Frau aus Rothenburg die mit anderen
Schaulustigen zur Georgsburg geeilt war, wurde schwer verwundet. Sie ist später an den Folgen ihrer
Verletzungen gestorben.
Am 14. April 1945 war der II. Weltkrieg in Rothenburg durch den Einmarsch der Amerikaner beendet. An
diesem 14. April früh gegen 7.00 Uhr stand plötzlich ein amerikanischer Soldat in der Wohnung meiner
Großmutter in der Wettiner Straße. Er verlangte heißes Wasser für seinen Tee. Kurz danach bedankte er sich
auf Englisch und marschierte in Richtung Dorfplatz. Als meine Mutter und ich auf dem Weg zu unsere
Wohnung auf der Schlackenhalde gegen 8.00Uhr über den Dorfplatz gingen, lagen dort ca. 60 bis 80 Soldaten
mit voller Ausrüstung und schliefen.
Wohl war der Krieg nun in Rothenburg zu Ende, aber nun kam eine gewisse Angst auf. Man fragte sich, ob die
Gefangenen für die vielen Entbehrungen Rache an der Bevölkerung nehmen würden. Es war nicht der Fall.
Die Gefangenen hatten hauptsächlich den Wunsch, sich Lebensmittel zu beschaffen. Es gab kleinere
Plünderungen im Ort. Von der Domäne wurden Schafe geholt und im Gefangenenlager am Saaleanger
geschlachtet. Viele Lebensmittel wurden aus der Malzfabrik in Könnern entwendet. Auch ein Saalekahn, der in
Trebnitz mit Lebensmitteln vor Anker lag, wurde geplündert. Besonders begehrt waren Fleischkonserven. Auch
wir Rothenburger profitierten von diesen Beschaffungsmaßnahmen.
Wir Kinder wagten uns sogar in das Gefangenenlager am Saaleanger. Dort wurden wir zum Mittagessen
eingeladen. Auch dem Werksgelände haben wir viele Besuche abgestattet und Pulver und Zündhütchen (Zünder
für die Gewehr- und Pistolenpatronen) mitgenommen.
Die Kommandantur der US-Streitkräfte in Könnern hatte durch eine Bekanntmachung alle Bürger unter
Androhung von Bestrafung aufgerufen, auf dem Dorfplatz Waffen, Fotoapparate, Ferngläser, Schmuck und
Uhren abzugeben.
Am 29. Juni 1945 verließen die Amerikaner Mitteldeutschland und damit auch unseren Ort. Am 30. Juni
kamen nun die sowjetischen Trup-pen in unseren Raum. Die Kommandantur in Könnern wurde nach dem
Abzug der Amerikaner weiter genutzt.
Nach Kriegsende kamen viele Flüchtlinge aus den von Deutschland verlorenen Gebieten nach Rothenburg.
Das brachte viele Probleme mit sich. Wohnraum musste beschafft werden und die Kinder mussten in unserer
kleinen Schule untergebracht werden. Auch neue Lehrer haben wir bekommen. Wegen Platzmangel wurde auch
nachmittags Unterricht durchgeführt.
Zwischen 1945 und 1949 waren für alle schwere Jahre. Es herrschte große Hungersnot. Mit Ende des Krieges
war die gesamte Wirt-schaft zusammengebrochen. Nun war jeder auf sich gestellt und es galt „aus Nichts etwas
zu machen“: z.B. Kochen und Braten ohne Fett, Backen auf der Herdplatte und mit wenigen Zutaten. In der
Getreide-Erntezeit wurden Ähren gelesen. Das war eine anstrengende Arbeit; der Anmarschweg zu den Feldern
(Ihlewitz, Thaldorf, Dornitz, Dößel) war lang und beschwerlich. Die gelesenen Ähren musste ich mit dem
Dreschflegel ausdreschen. Die erhaltenen Körner habe ich mit dem Handwagen zur Mühle nach Alsleben
gebracht. Das Mehl wurde in Rothenburg beim Bäcker abgegeben, und dafür haben wir Brot erhalten.
Im Herbst wurde die Zuckerrübe zur Hauptnahrung. Sie musste aber erst auf dem Feld gestoppelt oder
gestohlen und mit einem Tragekorb nach Hause transportiert werden. Dann musste ich beim Putzen, Schnitzeln
und Kochen zur Herstellung von Rübensirup helfen. In dieser Zeit mussten wir oft mit hungrigem Magen zur
Schule gehen.
Ein weiterer „Feind“ in dieser Zeit war der lange und harte Winter 1946/47. Es begann der Kampf um
Brennmaterial. Alles Brennbare in der Umgebung der Alten Burg, am Amtsberg und der Schlackenhalde wurde
abgeholzt. Ich hatte eine kühne Idee und wollte aus dem Wilden Busch Holz holen. Den Hinweg über die
zugefrorene Saale unterhalb des Wehres im Februar 1947 bei 12° minus schaffte ich problemlos. Auf dem
Rückweg -mit Holz beladen- brach plötzlich das Eis unter mir weg. Glücklicherweise konnte ich mich aus
meinem Eisloch befreien und ans Ufer gelangen. Das Heizungsproblem wurde etwas geringer, nachdem die
Fam. Arthur Becker den Kohlehandel in Rothenburg übernommen hatte.
Die medizinische Versorgung in Rothenburg war nicht gut. Das änderte sich, als 1945 Dr. Hilpisch
leerstehende Räume im damaligen Kinderheim (Ambu) als Arztpraxis übernahm. Ab 1946 wurden wir Kinder
gegen viele Krankheiten geimpft, ohne wenn und aber. Diese Impfungen haben uns vielleicht vor Krankheiten
geschützt und das leben gerettet.Als Folge der schlechten Ernährungslage sind damals viele Menschen an
Lungentuberkulose (TBC) erkrankt. Sie wurde auch als Volkskrankheit bezeichnet. Das damalige Kinderheim
wurde ein Krankenhaus für TBC-Patienten.
Trotz der vielen Probleme im täglichen Leben entwickelte sich allmählich das gesellschaftliche Leben im Ort
wieder. Die Menschen hatten das Bedürfnis, die schrecklichen Zeiten zu vergessen. Die Vereine - Sportler,
Gesangsverein und Feuerwehr – organisierten große Feste und Tanzabende. Es gab Kostüm- und Maskenbälle,
die niemals weniger als 400 Personen in den Saal des „Burgbergs“ lockten.
Nach der Demontage im Rüstungsbetrieb Mansfeld AG lief das wirtschaftliche Leben an. Der Beginn der
Friedensproduktion umfasste vor allem Dinge des täglichen Bedarfes.Von 1946 bis 1948 mussten die
Klassen 7 und 8 in Könnern zur Schule gehen. Das war mit vielen Problemen verbunden . Da war die Fahrt
mit der Kleinbahn im Winter; die Personenwagen waren kalt, die Lok blieb oft auf Höhe der Georgsburg
stecken, weil es keinen Dampf gab.In der Schule waren die Klassenzimmer kalt oder verqualmt, weil die Kohle
zu nass war. Auch der Fußweg nach Könnern war im Winter immer stark vom Schnee verweht. Und der
Hunger war unser ständiger Begleiter. Im Sommer konnten wir auf unserem Schulweg entlang der Bahnlinie
Obst und Gemüse aus den Gärten besorgen.
1948 kam ich aus der Schule. Ein neuer Lebensabschnitt begann.
Impressum: 500 Jahre Industriegeschichte Rothenburg a.d. Saale e.V., Am Kindergarten 11, 06193 Stadt Wettin-Löbejün,
Verantw. Ausgabe Nr. 34: Werner Voigt